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Originallink: http://www.pinselpark.org/philosophie/e/erasmus/torheit/torheit_01.html


 

Erasmus von Rotterdam

Lob der Torheit (7)

Die Künste will ich aber auch nicht übergehen. Was hat denn im Grunde den menschlichen Geist angetrieben, so viele, wie sie glauben hervorragende, Zweige des künstlerischen Schaffens zu ersinnen und den folgenden Generationen zu vererben, wenn es nicht die Ruhmsucht war? Die Menschen meinten in ihrer aberwitzigen Torheit, in so viel durchwachten Nächten und mit so viel Schweiß fragwürdigen Ruhm einheimsen zu müssen, der doch an Sinnlosigkeit kaum seinesgleichen hat.
Indessen verdankt ihr der Torheit überall hervorragende Annehmlichkeiten des Lebens, und, was das ergötzlichste ist, ihr habt euern Genuß am Wahnwitz der anderen. Nachdem ich also das Lob der Tapferkeit und des Fleißes für mich in Anspruch genommen habe, was hindert mich, auch das Lob der Klugheit mir gutzuschreiben? Es könnte aber jemand sagen, mit demselben Recht möchte ich Feuer und Wasser zusammenbringen. Doch ich glaube, auch das wird mir gelingen, wenn ihr nur wie vorhin mit offenen Ohren und geneigtem Sinn zuhören wollt. Wenn Klugheit vor allem Erfahrung ist, wem gebührt denn die Ehre dieses Beinamens mehr, dem Weisen, der teils aus Scham, teils aus Vorsicht nichts unternimmt, oder dem Törichten, den weder die Scham, die er nicht kennt, noch die Gefahr, die er nicht berücksichtigt, von irgend etwas abschrecken kann? Der Weise nimmt seine Zuflucht zu den Schriften der Alten und prägt sich da abgeschmackte Spitzfindigkeiten ein. Der Törichte greift einfach zu, schlägt sich mit den Dingen herum und gewinnt dabei die — wenn ich mich nicht täusche — wahre Klugheit. Das scheint Homer schon, so blind er auch war, bemerkt zu haben, wenn er sagt: „Die Wirklichkeit hat sogar der Törichte erkannt." Auf dem Wege der Lebenserfahrung gibt es nämlich hauptsächlich zwei Hindernisse, die Scham, die den Sinn umnebelt, und die Furcht, die die Gefahr zeigt und vom Abenteuer abrät. Die Torheit befreit uns davon gründlich.
Nur wenige Menschen sehen ein, wieviel Nutzen es allerdings bringt, von Scheu und Bedächtigkeit frei zu sein. Wenn man lieber jene Klugheit annehmen will, die im Urteilsvermögen besteht, dann vernehmt bitte, wie weit davon alle entfernt sind, die sich etwas darauf zugute tun. Es steht doch nun einmal fest, daß alles im menschlichen Leben seine zwei grundverschiedenen Seiten hat wie die Silene des Alkibiades.
Was obenhin als Tod erscheint, entpuppt sich bei näherem Zusehen als Leben und umgekehrt. Mit Wohlgestalt und Unförmigkeit, mit Reichtum und Armut, mit Nichtigkeit und Ruhm, Gelehrtheit und Ungelehrtheit, Stärke und Schwäche, Adel und Namenlosigkeit, Freude und Trauer, Glück und Unglück, Heil und Schaden ist es genauso, kurz, man findet alles unversehens ins Gegenteil verkehrt, wenn man den Silen aufdeckt. Sollte das jemand allzu philosophisch gesagt scheinen, will ich es mit einfachsten Worten verständlich machen. Wer würde bestreiten, daß ein König reich und Herr ist? Mit Geistesgutem ist er nicht ausgestattet, und es dünkt ihn freilich nichts genug, also ist er wohl sehr arm. Dann ist er seelisch in vielerlei Laster verstrickt, und damit lebt er schon in schändlicher Knechtschaft. Ähnlich könnte man in allen anderen Fallen philosophieren. Doch mag das als Beispiel genügen. Was soll das nun, könnte jemand fragen. Hört zu, worauf wir hinauswollen! Wenn einer versuchen wollte, Schauspielern auf der Bühne die Masken herunterzureißen und den Zuschauern die wirklichen Gesichter zu zeigen, würde er nicht das ganze Stück verderben und verdienen, wie ein Besessener von allen mit Steinen aus dem Theater verjagt zu werden? Es könnte so allzu plötzlich ein neues Bild der Verhältnisse erscheinen: wer eben noch Frau war, ist jetzt ein Mann, wer eben noch Jüngling war, gleich Greis, wer kurz vorher ein König war, entpuppt sich nun als der namenlose Dama des Horaz, wer eben noch Gott war, erscheint plötzlich als Menschlein. Diesen Irrtum beseitigen heißt das ganze Stück verwirren. Dieser Trug und Schein ist es doch, der die Augen der Zuschauer gebannt hält.
Was ist denn das menschliche Leben schon anderes als ein Schauspiel, in dem die einen vor den anderen in Masken auftreten und ihre Rolle spielen, bis der Regisseur sie von den Brettern abruft? Oft genug läßt er denselben Spieler in verschiedenen Rollen auftreten, so daß er bald als purpurgeschmückter König, bald als dürftig gekleideter Sklave erscheint. Schein ist zwar alles, aber dieses Stück wird nicht anders gegeben. Vielleicht erhebt sich hier unversehens vom Himmel herab ein Weiser wider mich und klagt, daß dieser da, den alle als Gott und Herrn betrachten, auch kein Mensch sei, weil er sich nach tierischer Art von Trieben leiten lasse; er sei ein Sklave in elender Lage, weil er so vielen und schmutzigen Herren freiwillig diene. Einen ändern, der den Tod des Vaters betrauert, könnte er zur Freude aufmuntern, weil der Vater nun erst zu leben begonnen habe, da doch das Leben hier nichts anderes wäre als eine Art Tod. Einen Adelsstolzen könnte er namenlos und Bankert nennen, weil er kein Verhältnis zur Tugend hätte, die allein die Quelle der Vornehmheit sei. So könnte er über alles sonst seine Sprüche machen. Bitte, was hätte er aber anderes getan als sich vor allen verrückt und besessen gebärdet? Wie nichts törichter ist als unangebrachte Weisheit, so ist nichts weniger klug als verkehrte Klugheit. Verkehrt handelt nämlich, wer sich der augenblicklichen Lage nicht anpaßt und seine Fahne nicht nach dem Wind stellt, sich nicht wenigstens des Trinkspruches „Sauf oder lauf!" erinnert und fordert, daß das Spiel nicht mehr Spiel sei. Dagegen zeugt es für die rechte Klugheit, wenn du als Mensch nicht über deine Grenzen hinaus weise sein willst und mit dem gemeinen Haufen gern ein Auge zudrückst oder munter irrst. Das aber, sagen sie, sei gerade das Merkmal der Torheit. Ich will es nicht einmal abstreiten, nur sollen jene ihrerseits zugeben, daß man so das Bühnenstück des Lebens spielt. Ihr Götter, soll ich tatsächlich das andere auch noch erwähnen, oder soll ich schweigen? Doch warum sollte ich die lauterste Wahrheit verschweigen? Vielleicht ist es angemessen, bei solchem Vorhaben die Musen vom Helikon herabzubemühen, wie das die Dichter oft genug bei faden Nichtigkeiten tun. Steht mir also ein wenig zur Seite, ihr Töchter des Zeus, indes ich meinen Beweis führe, daß keiner zu jener trefflichen Weisheit und angepriesenen Burg der Glückseligkeit gelangt ohne das Geleit der Torheit.
Zunächst steht doch fest, daß alle Leidenschaften der Torheit dienstverpflichtet sind. Das betrachtet man ja als Unterschied zwischen dem Toren und dem Weisen, daß jenen die Leidenschaften, diesen die Vernunft leiten. Deshalb scheiden die Stoiker alle Verwirrungen wie Krankheiten vom Weisen. Dabei sind eben diese Leidenschaften doch wie Erzieher für alle Adepten der Weisheit, ja, bei jeder Tugendübung pflegen sie als eine Art Sporn und Stachel mitzuhelfen und ermuntern geradezu zu gutem Gelingen. Allerdings streitet das der Überstoiker Seneca ab, der den Weisen von jeder Leidenschaft ausnimmt. Damit verläßt er aber nicht nur alles menschliche Maß, sondern bildet sogar eine neue Gottheit, die es nie und nirgends gab noch geben wird. Noch deutlicher gesagt, schafft er ein marmornes Menschenbild, stumpf und ohne jedes menschliche Gefühl. Mögen sie sich nach Belieben an ihrem Weisen ergötzen und ihn in abgeklärter Liebe umhegen, mit ihm in Platons „Staat" oder, wenn ihnen das mehr behagt, im Reich der Ideen oder in den Gärten des Tantalus Wohnung nehmen! Alle Welt meidet und verabscheut doch einen solchen Menschen wie einen schrecklichen Schemen, der taub ist für alle natürlichen Regungen, für keine Leidenschaften empfänglich und von Liebe und Mitgefühl nicht mehr gepackt wird wie ein harter Kieselstein oder der Marpessische Fels (des Vergil). Nichts entgeht ihm, er ist unfehlbar und durchschaut alles wie ein Lynkeus. Mit peinlichster Genauigkeit hat er alles überlegt, kennt keine Nachsicht und ist immer nur mit sich zufrieden, ist allein reich, allein vernünftig, allein König, allein frei, kurz, alles allein, jedoch nur in seiner eigenen Meinung. Freunde erwirbt er nicht, will auch niemand Freund sein und empfiehlt sogar den Göttern bedenkenlos den Strick. Alles im Leben verurteilt und belächelt er als Tollheit. So sieht jener vollkommene Weise aus.
Wenn es eine Wahl gäbe, welcher Staat würde sich einen solchen Staatslenker wünschen, oder welches Heer würde nach einem solchen Feldherrn verlangen? Welche Frau möchte ihn zum Gatten haben, welcher Gastgeber ihn als Gast, und welcher Diener würde einen Herrn mit solchen Gewohnheiten begehren oder ertragen? Wer möchte nicht viel lieber einen Menschen mitten aus dem dümmsten Haufen, der in seiner Torheit den Toren befehlen oder gehorchen kann, seinesgleichen fast ausnahmslos gefällt, galant ist gegen seine Frau, bei Freunden beliebt, ein angenehmer Gesellschafter, umgänglich als Hausfreund und schließlich duldsam gegen alle menschlichen Schwächen?



 


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